Nortorf / Kamakwie. Viel größer könnte der Unterschied nicht sein, als regelmäßig sein Haus in der Wilstermarsch gegen das im westafrikanischen Busch zu tauschen: Anders als in Nortorf bei Wilster gibt es in Kamakwie im Norden von Sierra Leone kein fließendes Wasser, keinen Strom, keine Milchprodukte – allerdings Internet und Hitze wie Staub sogar im Überfluss. Marion von Oppeln und Lars Bessel betreiben in siebtärmsten Land der Welt eine Nähwerkstatt und ein Aufforstungsprojekt und sollen als Mittler zwischen den Welten demnächst sogar die Ehrenbürgerschaft von Kamakwie verliehen bekommen. Ein Interview:
Wie lebt man ohne Wasser und Strom? Somit auch ohne Herd und Waschmaschine?
Lars Bessel: Das alltägliche Leben in Westafrika ist beschwerlich und zeitintensiv. Für vieles haben wir in Deutschland Maschinen, die uns das Leben leichter machen, hier hat diese Erleichterung einen Namen: James. Der junge Mann ist unser „Haus-Elf“, oder wie man hier sagt, unser „Boy“.Er verdient sich in seiner Wartezeit zwischen Bachelor und Master gutes Geld, indem er für uns etwa Wasser aus dem benachbarten Tiefbrunnen pumpt und es in mehreren ausgedienten 20-Liter-Speiseölkanistern ins Haus trägt. Damit wird dann zum Beispiel die Toilette gespült oder geduscht, indem wir uns aus einem großen Eimer kellenweise halbwegs kühlendes Nass über den Körper schütten. James wäscht zudem unsere Wäsche mit Kernseife und Waschbrett, spült den Abwasch, fegt und wischt das Haus samt Werkstatt und holt Benzin von der Tankstelle für den Generator.
Also gibt es doch Strom?
Lars Bessel: Ja, wenn es gerade Benzin gibt. Wir warten noch auf unseren Seecontainer aus Hamburg, in dem sich auch eine kleine Solaranlage befindet, um uns unabhängiger vom Sprit zu machen. Derzeit erreicht uns hier draußen alle zwei bis drei Tage ein Tanklaster, der abwechselnd eine der insgesamt vier Tankstellen in Kamakwie mit seinen geschätzten 8.000 Einwohnern beliefert, hinzu kommen mindestens noch einmal soviel Menschen in den umliegenden Buschdörfern. Der Spritpreis hat sich in den vergangenen vier Wochen um 50% erhöht, was sich natürlich nicht nur auf den Transportbereich, sondern auch auf die Lebensmittelpreise auswirkt. Die meisten Menschen leben hier sowieso am Existenzminimum von etwa einen Euro am Tag, da ist das ein echter Schlag ins leere Kontor.
Schürt das nicht Neid und Missgunst bei den Einheimischen, wenn die reichen Weißen Tag und Nacht ihren Generator laufen lassen, weil der Liter Benzin nur 1,17 € kostet?
Lars Bessel: Aus unterschiedlichen Gründen trifft das überhaupt nicht zu. Zum einen nutzen wir unseren Generator nur wenige Stunden am Tag, um Laptops und Mobiltelefone aufzuladen, manchmal auch für einen Ventilator und abends für drei Glühlampen – eine auf unserer Terrasse, zwei in der Nähwerkstatt. Wie gesagt, auch wir sind froh, wenn wir ‚mal 20 Liter Benzin abbekommen und James wartet darauf oft stundenlang.
Zum anderen und viel wichtiger: Die Menschen freuen sich über unsere Anwesenheit. Wir haben mit unseren beiden beruflichen Projekten „LIONBAG“ und „greenlimba“ sowie unserem ehrenamtlichen Engagement für die örtliche Berufsschule allein im ersten Quartal dieses Jahres rund 30.000 Euro hier vor Ort investiert – das entspricht im besten Fall dem Lebenseinkommen eines Menschen in Sierra Leone. Wir sind nicht hier, um auszubeuten, sondern um dieses Land voranzubringen – und das wissen die Menschen. Der Paramount-Chief hat angekündigt, uns demnächst die Ehrenbürgerwürde verleihen zu wollen und unsere Nachbarin Adama freut sich jeden Tag über einen Plausch mit meiner Frau.
Aber es fehlt noch ein Stromverbraucher: die Tiefkühltruhe. Das ist wirklicher Luxus „western style“. Lebensmittel verderben bei 35 Grad im Schatten sehr schnell und ein kühles „Star“-Bier am Abend genießen wir durchaus auch. Da wir den Generator nur stundenweise nutzen, ergäbe ein Kühlschrank keinen Sinn, aber eine vor allem mit abgepacktem Trinkwasser vollgepackte Gefriertruhe kühlt sich über den Tag selbst.
Das Brunnenwasser taugt also nicht als Trinkwasser? Und wie funktioniert die Eigenversorgung?
Marion von Oppeln: Jein, die Einheimischen trinken natürlich das Brunnenwasser, aber das ist uns zu gefährlich. Wir kaufen beim örtlichen Krankenhaus Trinkwasser, das in kleine Plastiktüten abgepackt wurde und tatsächlich steril ist. Trotz all unserer Impfungen gehen wir da lieber auf Nummer sicher. Beim Essen ist das ähnlich: Wenn wir selber kochen, verzichten wir auch hier auf Fleisch, das Gemüse wird ordentlich gewaschen und gekocht. Es gibt, wenn auch nicht immer, Süßkartoffeln, (süße) Möhren, kleine Gurken, Mini-Auberginen, Weißkohl, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Okra-Schoten sowie „Greens“ (Amarant-Blätter). Ansonsten können wir wunderbares Weißbrot beim Bäcker kaufen, dazu an verschiedenen Marktständen Eier, Couscous und Reis. Frische Bananen direkt vom Baum, Orangen, Mangos, Zitronen, Ananas, Papayas und Avocados werden von fliegenden Händlerinnen direkt vor unserem Haus angeboten. Und ja, ab und zu gehen wir auch essen oder lassen es uns liefern. Esther kocht gelegentlich afrikanische Speisen für uns und unsere Gäste wie Cassava-Leaves mit Reis oder Groundnut-Soup, lecker aber sehr scharf.
Noch kurz zum Kochen: Traditionell wird hier vor der Tür auf Holz oder Holzkohle gekocht. Wir haben uns in der nächstgrößeren Stadt Makeni (90 Kilometer oder 2,5 Stunden über eine echte „dirt road“ entfernt) einen Gaskocher gegönnt. Der steht jetzt in der Küche und leistet gute Dienste, für das Teewasser am Morgen ebenso wie für das Mittagessen. Mit Hilfe eines schwedischen Camping-Ofens als Aufsatz können wir sogar backen. Allerdings wissen wir jetzt, warum in alten Rezepten immer steht, man solle das Mehl sieben – weil sich darin Mehlwürmer befinden. Alles ist hier wie bei uns in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts lose verpackt, inklusive der kleinen Tierchen. Das gilt auch für Bohnen und sogar für Nudeln …
Mehlwürmer – und was gibt es sonst noch an tierischen Mitbewohnern?
Marion von Oppeln: Erstaunlich wenig, Moskitos, ein paar Spinnen, manchmal Ameisen im Zucker und ab und zu eine Kakerlake – aber für letztere gibt es hier ein sehr gutes Gift aus der Sprühdose. Vor zwei Wochen waren wir für Untersuchungen im Zusammenhang mit unserem Aufforstungsprojekt „greenlimba“ im nahe gelegenen Nationalpark Outamba an der Grenze zu Guinea, da hatten wir durchaus auch Ratten im Zimmer und draußen verschiedene Affenarten, Würgeschlangen, Waldelefanten, Pumas, Zwerg-Nilpferde, Warzenschweine, Giraffen, Adler und dutzende weitere exotische Vogelarten, die sich jedoch allesamt nicht fotografieren lassen wollten. Ein echtes Paradies am Little Scarcies River.
Das klingt jetzt aber nicht nach einem Land für Pauschaltouristen?
Lars Bessel: Der einzige Grund, warum ich jetzt nicht lache, ist, dass Sierra Leone noch bis in die 1980er Jahre tatsächlich ein echter Touristen-Hotspot war. Bis zum Bürgerkrieg. Davor wäre niemand auf die Idee gekommen, in den Senegal zu fliegen oder nach The Gambia. Heute ist es anders herum. Aber, Sierra Leone ist wirklich ein schönes Reiseland: Die Menschen sind freundlich und ehrlich, es gibt nahezu unberührte Traumstrände am Atlantik, eine pulsierende Hauptstadt Freetown und eben auch Reste des westafrikanischen Regenwaldes in Gola oder eben im Outamba.
Ich habe gerade meinen 52. Geburtstag in Kamakwie gefeiert, mit einer durchaus schräg spielenden Brass Band vor unserem Haus, mein 20jähriger Sohn Luc hat mich erstmals für mehrere Wochen hierher begleitet, um an der örtlichen Berufsschule Computerkurse zu geben und so sein Pflichtpraktikum für die Universität Münster mit Hilfe unseres Verein „Mahmoo e.V.“ zu absolvieren, meine Frau Marion begleitet mich seit fünf Jahren hierher, und wir alle fühlen uns hier mehr als willkommen und sicher. Mir fielen auf Anhieb ein Dutzend andere Staaten der Welt ein, wo das nicht so war oder ist.
Das eigene Haus im Busch Westafrikas war da also nur die logische Konsequenz?
Marion von Oppeln: Genau! Nach fünf Jahren im Guesthouse haben wir uns nach unseren eigenen vier Wänden gesehnt. Ein eigenes Bett, ein eigenes Bad, eine eigene Küche, eine eigene Terrasse. Für unsere Verhältnisse ist es ein bescheidenes Heim, für lokale, ein Palast. Die überschaubare Einrichtung haben wir uns vor Ort von einem Tischler aus heimischem Tropenholz produzieren lassen, ein paar Bücher und dergleichen mehr folgen im Seecontainer. Dann ist unser zweites Haus komplett. Gänzlich auswandern würden wir trotzdem nicht. Wir freuen uns riesig, den kühlen Frühling wieder in Nortorf erleben zu dürfen.
Aber ich weiß schon jetzt, dass wir uns nach spätestens sechs Wochen wieder nach unserem einfachen und doch so anstrengendem Leben in Kamakwie sehnen werden. Die Menschen hier haben quasi nichts, aber sie sind glücklich. In Deutschland haben wir alles – und meckern. Das Leben in Westafrika macht dankbar und demütig.
Abgesehen davon, haben wir hier mittlerweile zwei Firmen zu leiten: „LIONBAG“ und „greenlimba“, da hängen Arbeitsplätze dran, ganze Familien, eine ganze Region. Um Vertrieb und Vermarktung müssen wir uns in Deutschland kümmern. Wer noch mehr über unser ungewöhnliches Leben am Zweitwohnsitz Sierra Leone wissen möchte, dem kann ich eine unserer Seiten im Internet empfehlen: www.mariandlee.com.
Bleibt noch die Frage: Wieso ausgerechnet Sierra Leone und dieses Engagement?
Lars Bessel: Zufall, Schicksal, Flugpreise. Im ernst: Eigentlich wollten meine Frau als Illustratorin und ich als Redakteur im Jahr 2017 „nur“ ein Künstlerbuch mit dem Titel „No food for a lazy man“ über ein unbekanntes afrikanisches Land produzieren. Dann sind wir in Kamakwie auf Saidu Sesay, den Leiter der Berufsschule, gestoßen und haben beschlossen, einen klassischen Förderverein zu gründen – daraus wurde „Mahmoo e.V.“.
Doch was hilft ein Stipendium über 20 Euro pro Jahr für eine Berufsausbildung, wenn es anschließend keine Jobs gibt? Also haben wir mit unserem LBMD-Verlag und „LIONBAG“ als Marke Jobs geschaffen. Wir lassen seitdem in unserer Nähwerkstatt gebrauchte Plastik-Zementsäcke in Kombination mit lebensfrohen afrikanischen Stoffen zu schicken wie stabilen Tragetaschen umarbeiten, die wir in Deutschland und Europa verkaufen. Mittlerweile sind etliche Produkte hinzugekommen, wie Turnbeutel, Schürzen, Tischläufer.
Schlussendlich haben wir in all den Jahren hier mitansehen müssen, wie der restliche Regenwald immer mehr verschwindet. Holzkohleproduktion und chinesischer Tropenholzexport sind die Hauptgründe dafür. Unsere Antwort: Aufforstung. Und zwar als gegenseitiges Geschäft. Immer mehr Firmen, aber auch Privatpersonen, möchten in Deutschland ihre CO2-Bilanz ausgleichen, doch die Flächen dafür sind in Europa begrenzt. Außerdem wachsen die Bäume hier dank des tropischen Klimas 2-3 mal schneller als in Europa. Wir forsten somit nach internationaler Industrienorm #14064 in Sierra Leone auf, um klimaschädliches Kohlendioxid aus Deutschland im neuen „greenlimba“-Regenwald zu binden. Dafür verkaufen wir entsprechende Zertifikate. 30 Bäume haben wir bereits für uns selbst reserviert, um unsere Flugreisen zu kompensieren – und den Generator.
Mehr Informationen zu den genannten Projekten gibt es hier: